„Am Rande Kanadas sieht man manchmal eine Art Tier, das an ein Pferd erinnert, mit (Paar-)hufen, Zottelmaul, einem Horn auf der Stirn, einem Schwanz wie ein Wildschwein, schwarzen Augen und einem Hirschhals:
Es ernährt sich in der nächsten Wildnis: Die Männchen kommen nie zu den Weibchen, außer in der Zeit, in der sie sich paaren, woraufhin sie so wild werden, dass sie nicht nur Tiere fressen, sondern sich auch gegenseitig …“ (Zitat Seite 172 der engl. Ausgabe). Dieser Bericht stammt vom niederländischen protestantischen Theologen Arnoldus Montanus von 1671. Wer sich damit beschäftigen möchte, das monumentale Werk von ihm unter der Bezeichnung „De Nieuwe en Onbekende Weereld“ (die neue unbekannte Welt) samt einer Auswahl aus 125 Kupferstichen zu bewundern, sollte dazu ein wenig Zeit mitbringen.
Jedenfalls hat der Missionar, der Europa selbst nicht verlassen hatte, die Reisebeschreibung der Entdecker Amerikas zu Papier gebracht, die wie im Falle der Einhornsichtung schon fast zu präzise erscheinen, um lediglich als Phantastereien durchzugehen.
Obgleich die Illustrationen mitunter recht phantastisch anmuten, sind im Grunde sämtliche Reisebeschreibungen äußerst präzise verfasst und klingen nicht wie erfundene Sagen. Natur bzw. Naturvölker werden dort recht detailliert beschrieben; das gilt ebenso für die heute gängigen Tierarten, die die neue Welt damals zu bieten hatte und für uns heute als absolut selbstverständlich erscheint.
An dem holländischen Gemälde „Die Arche“ aus dem 18. Jahrhundert sieht man recht eindrucksvoll, wie selbstverständlich Einhörner in die Riege der uns bekannten üblichen Tierrassen eingereiht wurden und selbstverständlich mit auf die Arche sollten (Bildquelle mit Klick auf das Bild). Andere (aus heutiger Sicht) Fabelwesen waren hier offenbar nicht Bestandteil des Gemäldes.
Könnte es also sein, dass Montanus hier eine interessante Überlieferung verewigt hat? Man kann sich darüber streiten und sicherlich werden die Evolutionshüter spontan anderer Meinung sein.
Ich persönlich halte solche Sichtungen aus dieser Zeit für plausibel. Interessant finde ich vor allem, dass diesem vermeintlichen „Märchenwesen“ eine eher grobschlächtige bis brutale Rolle in der Reisebeschreibung zugewiesen wird. Ganz anders als den heutigen pinkfarbenen Fabelwesen, die die Kinderzimmer kleiner Mädchen schmücken.
Nachstehende Abbildung von Albertus Magnus (* um 1200 in Lauingen an der Donau; † 15. November 1280 in Köln)
Im 15. Jahrhundert wurden Einhörner wie selbstverständlich neben andere bekannte Tierarten eingereiht. Die von Montanus verewigten Reiseberichte bildeten da keine Ausnahme. Erhard Reuwich aus Mainz hielt für Bernhard von Breydenbach für dessen Werk Peregrinatio in terram sanctam von 1486 ebenfalls Einhörner fest. Quelle.
Andere, wie Hugo von Trimberg (ca. 1230-ca. 1313), haben hier ebenso selbstverständlich das Einhorn neben den üblichen Waldtieren eingereiht; allerdings in einer dem Löwen untergeordneten Rolle. Link.
Spielkarte einer „wilden Frau“ mit dem Einhorn (Quelle – 1400-1499). Waren beide gleichermaßen selten oder lediglich ein Produkt wilder Phantasien?
Jemand auf Facebook äußerte sich einmal so: „Ich könnte mir vorstellen, dass Einhörner eher eine Art „seltene“ Einhornantilope eurasischen Ursprungs waren, die seitdem sicherlich verschwunden (ausgestorben) ist…. und damit alles andere als eine Legende darstellt – ganz im Gegensatz zu Dinosauriern, die als evolutionäre Erfindung bezeichnet werden können. Keineswegs jedoch „Einhörner“, auch wenn sie zu einem semitischen Symbol geworden sind.“
Wer weiss, vielleicht ist da etwas Wahres dran. Ich möchte mich an dieser Stelle zwar nicht zur vergangenen Existenz von Dinosauriern äußern, glaube aber jedenfalls an eine vergangene Zeit mit Einhörnern. Die Sichtungen sind ja selbst in der Antike grenzüberschreitend und bieten mitunter mehr als nur symbolträchtige Ansätze.
Es ist wie mit den Drachen: Es soll sie nie gegeben haben, doch schmücken sie zahlreiche Städte und Länderwappen. Die meisten Einhörner zieren Städte in Deutschland, Österreich, Schweiz und in Zentraleuropa. Selbst Julius Cäsar soll eines (der Einhörner) in Bayern gesehen haben. Auch in den Wappen wird die Beschreibung des Wesens analog zu den Sichtungen aufgegriffen (Löwenschwanz, Ziegenhufe etc.). Sämtliche Sichtungen gehen den Überlieferungen, Gravuren und Zeichnungen entsprechend mindestens 5.000 Jahre zurück.
Spätestens in der Zeit des Mittelalters sah man sich in der Lage, sogar zwischen unterschiedlichen Einhorn-Arten zu differenzieren. Aus dem Buch Historiae naturalis de quadrupetibus libri – ein Werk von John Jonston (auf Polnisch, Jan Jonston; auf Latein, Joannes Jonstonus; Szamotuły, 15. September 1603 – 1675, Legnica), einem polnischen Wissenschaftler und Arzt, der aus dem schottischen Adel stammt. (>> Link), (>> Link)
Die Beschreibungen von Montanus sind nicht einzigartig. In anderen Ländern wurde dieses Wesen mit spitzem und gewundenen Horn ebenfalls ungezügelt und gefährlich dargestellt. Es soll sich bei den älteren Sichtungen auch um Paarhufer gehandelt haben, die mit einem Kuh- oder Löwenschwanz ausgestattet waren. Ktesias von Knidos, ein griechischer Arzt und Geschichtsschreiber des späten 5. Jahrhunderts v. Chr., der aufgrund seiner abenteuerlichen Überlieferungen hierzulande als sehr kritisch angesehen wird, will bereits zu seiner Zeit ein Einhorn gesichtet haben. Hier ähneln sich die Beschreibungen mit späteren: Beschrieben wird der Kopf eines Hirsches, die Ziegenhufe, ein Löwenschwanz, blaue Augen und ein weißes Horn. Er geht noch weiter: Seiner Meinung nach sind die Hörner von Einhörnern hervorragende Trinkgefäße, die Gifte unschädlich machen. Selbstverständlich werden solche Ansichten von der heutigen Wissenschaft erst recht belächelt.
Dennoch hat sich die Legende der Neutralisierung von Giften durch Einhörner überall hartnäckig etabliert, wie man hier erkennen kann (folgende Abbildung).
„Das Einhorn wird gefunden“ oder „Das Einhorn am Brunnen“. Der zweite Wandteppich in der Serie „The Hunt of the Unicorn“, von ca. 1495 -1505.
Ein hoher Zierbrunnen mit Löwenmaskenzapfen gießt Wasser in einen Waldbach, wo sich Tiere (Löwe und Löwin, Leopard, Wiesel, Wolf, Hirsch, Fasan, Goldfink und Kaninchen) versammelt haben, um zu trinken, während ein Entenpaar im Bach selbst vorbeischwimmt.
Ein Einhorn kniet auf der anderen Seite des Stroms vor dem Betrachter und taucht die Spitze seines Horns in das Wasser (ein Heilmittel für alle Gifte), was das Wasser trinkbar macht.
Hinter den Büschen, die den Brunnen umgeben, befinden sich ein Dutzend Jäger mit langen Lanzen über den Schultern und ihren Jagdhunden. Sie reden und gestikulieren miteinander und überlegen gemeinsam, wie man das Einhorn töten kann, damit sie es dem König und der Königin überbringen können.
Die Türme der Königsburg sind durch die Bäume in weiter Ferne (in der linken oberen Ecke des Wandteppichs) sichtbar.
Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, da die Löwen des Brunnen als Wasserspeier für den Machtanspruch der damaligen (wie auch heutigen) Elite stehen, die offenbar mitunter auch „Gift“ in Umlauf bringt, um das Wild zu jagen (ggf. stellvertretend für das Volk). Reinigende Kräfte – wie durch das Einhorn repräsentiert – müssen sich also entweder tot oder lebendig diesem System unterordnen. Bemerkenswert ist natürlich auch die Symbolik der französischen Lilien am Brunnenkopf.
Es ist wie mit dem Yeti, Bigfoot oder dem Yowie: Das Einhorn wird überall gesichtet oder entsprechende Beschreibungen überliefert, doch niemand will dahinter eine ernsthafte Analogie vermuten. Selbst im China der Antike ist Quilin als Entsprechung des westlichen Einhorns bekannt. Auch dort soll es den Körper eines Rehs und den Schwanz eines Ochsen haben, wenngleich es hier als weniger gewalttätig als bei Montanus beschrieben wird – eher als friedliches Omen. Zur Zeit von Konfuzius wurde ein solches Exemplar gefangen. Das Volk sah in dem Wesen weniger ein positives als eher ein schlechtes Vorzeichen und ermordeten es, was Konfuzius selbst sehr betrübte. Ein Werk von ihm zu diesem Thema blieb unvollendet. Der gesamte asiatische Raum hat eigene Bezeichnungen für das Wesen, was offenbar überall als bekannt galt.
Hier als Tonfigur aus China, Northern Wei (386-534 CE)
In der christlichen Mythologie hat das Wesen einen Stellvertreterstatus für Reinheit und Jungfräulichkeit. Dieser Nimbus wird bis heute in die pinkfarbene Kinderwelt hinein kolportiert.
Angekettet im Wappen, dann politisch missbraucht
Bei Wikipedia können wir nachlesen, in welcher Form sowohl britische als auch schottische Wappen nicht ohne Einhorn auskommen:
In der englischen Variante heisst es: „Der Legende nach galt ein freies Einhorn als sehr gefährliches Tier. Deshalb ist das heraldische Einhorn angekettet, ebenso wie beide Einhörner im königlichen Wappen Schottlands.“ Löwe und Einhorn liegen spätestens seit Übernahme der vormals schottischen Figur durch die Engländer im symbolischen Clinch, was auch von Lewis Carroll in seinem Buch „Alice hinter den Spiegeln“ thematisiert wird. Der symbolische Konflikt dieser beiden Repräsentanten geht jedoch zeitlich gesehen sicherlich noch viel weiter zurück.
Bildquelle
Spätestens ab diesem Punkt verlässt einen der Glaube an eine bloße Sage. Die Beschreibung des Einhorns als gefährliches Wesen deckt sich aus meiner Sicht sehr stark mit den natürlichen Sichtungen.
George Orwell hat mit seinem Essaye „Der Löwe und das Einhorn. Socialism and the English Genius“ im Zeitraum des 2. Weltkrieges seine Ansicht geäußert, dass das veraltete britische Klassensystem die Kriegsanstrengungen behindere, und dass Großbritannien, um Nazi-Deutschland zu besiegen, eine sozialistische Revolution brauche. Deshalb argumentierte Orwell, dass Sozialist und Patriot zu sein sich nicht widersprechen müsse. Dadurch wurde „Der Löwe und das Einhorn“ zu einem Symbol der Revolution, eine neue Art von Sozialismus: dem „demokratischen“ „Englischen Sozialismus“. Dieser stünde seiner Forderung nach im Gegensatz zum unterdrückenden sowjetischen totalitären Kommunismus und sei auch eine neue Form des Britentums, eine vom Imperium und den dekadenten alten herrschenden Klassen befreite sozialistische Form. Orwell erklärte, dass das revolutionäre Regime die Königsfamilie als nationales Symbol behalten könne, der Rest der britischen Aristokratie sollte seiner Auffassung nach wegfegt werden.
Orwell trifft hier adelsspezifisch eine Auslese und verkauft sein Denken als „befreienden“ Sozialismus. Auch dafür musste das Einhorn herhalten. Das Ganze wirft bereits ein Licht auf den Prozess, der Orwell schließlich zum Schreiben seiner berühmten Dystopie „1984“ animierte.
Im folgenden zwei beispielhafte Bauten (Bildquellen mit Klick auf das Bild), die von einem Einhorn geschmückt werden. Es handelt sich entweder um Kirchen oder öffentliche Gebäude des angloamerikanischen Empires.
Rolle rückwärts, passender zur Evolutions“lehre“?
Die Wissenschaft bzw. Allgemeinheit pocht darauf, dass hier in der Vergangenheit generell spezifische Verwechslungen stattfanden oder man hier Phantastereien mit Rückschluss auf andere Tierarten zur Grundlage machte. Weder soll es in den letzten paar Jahrtausenden Einhörner gegeben haben, noch wäre sein Horn von irgendeiner heilbringenden Wirkung. Wenn, dann hätte man es hier mit Verwechslungen zu tun wie mit der Oryx Antilope und dem Narwal.
Bild von Leon Basson auf Pixabay
Nachstehende Narwal-Illustration (Bildquelle mit Klick auf das Bild) stammt aus dem 19. Jhd.
Wir wissen ja alle, dass es Einhörner gibt – man denke neben dem Narwal beispielsweise auch an die stämmigen Nashörner. Wissenschaftler sind sich aber bewusst, dass es – unter dem Vorzeichen einer wieder mal (vermutlich) übertrieben weit zurückliegenden Zeitrechnung – im frühen oder mittleren Pleistozän ebenfalls auch Einhörner – die sogenannten sibirischen Einhörner – gab. Das Wesen soll also zwischen 125.000 und 2,5 Millionen Jahre existiert haben.
Naja, zwischenzeitlich ließ man sich gegebenenfalls bei dieser Art (dem Elasmotherium sibericum) auch auf 100 bis 200.000 Jahre vor unserer Zeit ein, als das stämmige Exemplar seiner Art durch die Wälder streifte. Nach aktuelleren Untersuchungen geht man davon aus, dass sie gemeinsam mit dem Säbelzahntiger und den Wollmammuts als Folgen des Klimawandels ausstarben. Man tastet sich aufgrund dieser neuen Vermutung jetzt also schon auf ein Alter von 35-39.000 Jahre heran. So schnell kann/darf Wissenschaft ihre Meinung ändern. Obwohl es wärmer wurde und mithin die Vegetation üppiger ausfiel, soll das Klima angeblich die sibirischen Einhörner überfordert haben. Während Nashörner und Antilopen überlebten, sollen sich die anderen Einhörner nicht schnell genug angepasst haben. Außerdem soll die eingeschränkte Reichweite, die geringe Zahl an Einzelexemplaren und die niedrige Reproduktionszahl eine Rolle gespielt haben.
Aus meiner Sicht hat es mit dem klassischen Einhorn der o. g. Beschreibung ohnehin nichts zu tun, da es ja von völlig anderer Statur war. Dennoch zweifle ich nicht an den Überlieferungen aus der Antike, dass dieses hirschartige Wesen bis ins Mittelalter hinein existiert hat.
Es könnte sein, dass man es schließlich gezielt und endgültig ausgerottet hat und sich anschließend die wilde Unbezähmbarkeit symbolisch für diverse Herrschaftsansprüche zunutze machte.
Quelle