Sie haben noch nie von „Erdställen“ gehört? Dabei handelt es sich um unterirdische Gänge, die sich über den gesamten Süden Deutschlands, aber auch in den Nachbarländern Österreich, Tschechien und Frankreich finden.
Ihre Eingänge befinden sich an den verschiedensten Stellen. Mal sind sie auf Friedhöfen, mal in Kirchen und unter Bauernhöfen, manchmal sogar mitten im Wald oder auf dem freien Feld.
Wie der US-Autor Daniel Smith in seinem Buch „Die 100 geheimsten Orte der Welt“ schreibt, wurden die Gänge erstmals im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von einem Benediktiner-Pater erforscht. Angelegt hat man sie demnach vermutlich zwischen 1000 und 1300 n. Chr., also im Hochmittelalter.
„Die Gänge sind unterschiedlich hoch und breit. Manche sind so eng, dass man nur auf allen Vieren hindurchschlüpfen kann, andere dagegen relativ breit und über 100 Meter lang“, schreibt Smith. In manchen Kammern habe man Mühlsteine, Pflugscharen, Reste von Türen und Baumaterialien gefunden.
Jegliche Lichtquellen fehlten, auch gebe es keinerlei Hinweise auf menschliche oder tierische Fäkalien oder auf Lebensmittelvorräte.
Wozu dienten die „Erdställe“?
Darüber kann man nur mutmaßen, da sie urkundlich kaum erwähnt wurden. „Unser heutiger Wissensstand reicht nicht aus, um die ursprüngliche Funktion der Erdställe zu entschlüsseln“, schreibt der im bayerischen Neukirchen-Balbini ansässige Arbeitskreis für Erdstallforschung e. V., der sich mit der Untersuchung der unterirdischen Gänge befasst, auf seiner Webseite.
Allerdings gibt es demnach unterschiedliche Deutungsversuche von Forschern zu den rätselhaften Anlagen. „Die einen gehen davon aus, dass Erdställe als Zweckbauten angelegt wurden, also beispielsweise als Zufluchtsstätten, Verstecke oder Vorratsräume dereinst einer profanen Nutzung dienten.
Andere Theorien nehmen hingegen an, dass diese unterirdischen Bauwerken als Kultstätten oder Sakralbauten im Zusammenhang mit vorchristlichen Ritualen oder aber hochmittelalterlichen Jenseitsvorstellungen geschaffen worden sind.“
Woher kommt der Name „Erdstall“?
Der Name „Stall“ ist etwas irreführend, weil man ihn heutzutage hauptsächlich als Bezeichnung für Gebäude zur Tierhaltung verwendet. Laut dem Arbeitskreis für Erdstallforschung hatte das Wort ursprünglich eine allgemeinere Bedeutung, etwa im Sinne von „Stelle, Standort oder Stätte“.
„Erdställe sind demzufolge Stätten bzw. Räume, die in den Erdboden gegraben oder sogar aus dem anstehenden Gestein gemeißelt worden sind“, so der Arbeitskreis.
In Bayern ist daneben auch die Bezeichnung „Schratzelloch“ verbreitet. Grund dafür ist, dass dem Volksglauben nach Zwerge (auch Schraten, Schratzeln, Razeln oder Schranzen genannt) die unterirdischen Gänge gruben.
Diese Karte zeigt das Verbreitungsgebiet der Erdställe. In Deutschland finden sich die meisten der Gänge im südöstlichen Bayern.
Wo man „Erdställe“ besuchen kann
Es gibt mehrere Orte, an denen man einen Einblick in die rätselhafte Welt der Erdställe bekommen kann: In Deutschland in Arnschwang nahe der tschechischen Grenze und bei der sogenannten Rabmühle in Stamsried, ebenfalls im Süden Bayerns.
Da sich beide Orte in Privatbesitz befinden, ist eine Führung nur per E-Mail (info@erdstall.de) über den Arbeitskreis für Erdstallforschung möglich. Diese informiert Interessenten anschließend über die genaue Lage und die benötigte Ausrüstung für einen Besuch. Des Weiteren gibt es in Oberösterreich den Erdstall Ratgöbluckn in Perg, der zu den Außenanlagen des Heimathaus-Stadtmuseum Perg gehört.
Eine Vielzahl anderer Erdställe ist aus Sicherheitsgründen nicht mehr begehbar, da das Oberflächenmaterial sehr instabil ist. Viele der Gangsysteme sind den Forschern zufolge zudem in den letzten Jahrzehnten bei Baumaßnahmen zerstört worden.
Dabei seien „zahllose wichtige Informationen für immer verloren gegangen“, die für die Lösung des Rätsels unerlässlich seien.
Diesen und 99 weitere spannende Orte finden Sie im Buch „Die 100 geheimsten Orte der Welt“ von Daniel Smith, erschienen im riva Verlag, 19,99 Euro.