Seit fast einem Jahrhundert spukt eine Vorstellung durch die europäische Literatur (einschließlich Film und Computer-Spielen), die vor allem von Jugendlichen gern aufgegriffen wird, kurzgefasst: „Agartha“.
Das ist ein unterirdisches Königreich, von dem aus die oberirdische Welt regiert wird. In einer unzugänglichen und sehr geräumigen Höhle im Himalaja leben Mystiker, die die Geschicke der Menschheit leiten.
Die Einzelheiten werden oft sehr schön ausgeschmückt, an ihrem Wirklichkeitscharakter wird von den Anhängern nicht gezweifelt. Anders als versunkene Kontinente wie Platons Atlantis oder das Mu von Bourbourg, die nur vorgeschichtliche Funktion haben, ist mit dem Begriff „Agartha“ ein in die Jetztzeit geworfener Glaubensinhalt aufgerufen, der durchaus auch politische Dimension annehmen kann, vergleichbar vielleicht dem ‚Königreich des Priesters Johannes‘, von dem zu Beginn der Renaissance fabuliert und zu dem diplomatische Missionen geschickt wurden.
Es kommt mir hier darauf an, der Entstehung des seltsamen Agartha- Mythos nachzugehen: Seit wann gibt es diese Vorstellung, wer brachte sie auf?
Folgendes Zitat führt uns mitten in den Prozess: „Der Titel ‚König der Welt‘ kommt in seiner höchsten und vollkommensten, zugleich auch strengsten Bedeutung, genau genommen Manu, dem ursprünglichen und universalen Gesetzgeber zu, dessen Name sich unter verschiedenen Formen bei einer großen Anzahl aller Völker wiederfindet.“
So beginnt René Guenon das 2. Kapitel seines Buches „Le roi du monde“ (Paris 1958). Die deutsche Fassung erschien als „Der König der Welt“ in München 1956, sechs Jahre nach dem Tod des geheimnisumwitterten französischen Sufis in Kairo. René Guenon, geboren 1886 in Blois, studierte ab 1909 in Paris und hatte als junger Lehrer 1917/18 in Setif (Algerien) Arabisch gelernt. Nach dem Tod seiner Frau zog er nach Kairo,
heiratete dort eine Ägypterin und hatte mit ihr zwei Töchter und zwei Söhne. Unter dem Namen Abdel Wahid Yahya war er hoch angesehen und schrieb mehrere Werke mystischen Inhalts.
Als Kenner des Hinduismus hatte er 1921 „Introduction générale à l’étude des doctrines hindoues“ verfasst. Am bekanntesten ist sein Buch „La crise du monde moderne“, deutsch: „Die Krise der Neuzeit“ (Köln 1950).
Hilfreich bei unserer Suche nach dem schwammigen Begriff „Agartha“ ist Guenons kleine Schrift „Der König der Welt“, weil sie viel zur Verbreitung dieses Begriffs beigetragen hat.
Der Text soll zuerst im Dezember 1924 in der italienischen Zeitschrift Atanor erschienen sein, in Deutsch im Jahr darauf in Frankfurt/M. Mir sind nur die oben genannten postumen Auflagen bekannt. Heute gibt es ein schönes Büchlein im Aurum Verlag (Freiburg im Breisgau 1987), übersetzt von Ursula v. Mangoldt, mit einem Vorwort von Leopold Ziegler sowie Anmerkungen und einem widersprechenden Nachwort von Ernst Küry, einem Freund von Frithjof Schuon, dessen Werk „Castes et races“ (Lyon) auch zitiert wird (Seitenzahlen hier nach „Der König der Welt“ von 1987, abgekürzt KW).
Die wichtigsten Angaben für unsere Suche bringt Guenon gleich auf der ersten Seite unter der Überschrift: „Die westliche Vorstellung von Agartha“ (S. 13): Zwischenträger der Überlieferung ist Saint-Yves d’Alveydre mit seinem Buch „Mission de l’Inde en Europe“ (postum 1910), wobei einiges darin – und eben die uns interessierende Idee von Agartha – auf den berühmten französischen Forscher, oder, wie Guenon sagt, den „wenig zuverlässigen Schriftsteller Louis Jacolliot, der sich jedoch nicht als Autorität heranziehen lässt“ zurückgeht, in dessen Büchern „Les Fils de Dieu“ (S. 236, 263-267) und „Le spiritisme dans le monde“ (S. 27-28) sich die Grundlagen fin- den. Guenon schreibt dazu:
„Unserer Meinung nach hatte Jacolliot während seines Aufenthaltes in Indien von diesen Dingen gehört, sie hingegen, wie die übrigen auch, auf eine äußerst fantastische Weise ausgeschmückt.“ (Siehe dazu auch Topper, Wiedergeburt S. 281 f ).
In dem Buch von Alveydre, der Jacolliots fantasievolle Ideen aufgriff, ist laut Guenon „ganz wörtlich genommen – Unwahrscheinliches enthalten“, weshalb der Autor „guten Grund hatte, dieses seit Langem schon geschriebene, doch nicht zu Ende geführte Werk nicht selbst zu veröffentlichen.“ (KW S. 13)
Das tat Alveydres Freund Gérard Encausse, Gründer des Ordens der Martinisten, nach seinem Tod, als er in dessen Papieren das 1886 gedruckte Buch fand, das Alveydre angeblich sofort nach Drucklegung hatte zerstören lassen. Alveydre war ausgeprägter Christ, er strebte eine Vereinigung der drei großen monotheistischen Religionen an (1877).
Vielleicht wäre dennoch diese Episode französischer Reisefantasien un- bemerkt verschollen, wenn nicht ein berühmt gewordener Reisender, der Pole Ferdinand Ossendowski (1876- 1945), aus dieser Quelle schöpfend eine brauchbare Geschichte gemacht hätte.
In seinem Buch „Tiere Menschen und Götter“ (Frankfurt/M. 1923), das von seiner Asienreise 1920-21 erzählt, bringt er „Berichte, die fast wörtlich mit denen von Saint-Yves (d’Alveydre) übereinstimmen.“ (Guenon KW S. 14)
Die Ähnlichkeit ist dermaßen groß, dass gar mancher von Plagiat sprach, zumindest zeigt sich dem aufmerksamen Leser der Ossendowskischen Reiseromane einmal mehr, wo er seine Erlebnisse hernahm und in welcher Weise er sie aufarbeitete. Auch Sven Hedin war der Meinung, dass Ossendowski mehr fabuliert als ehrlich berichtet, den Kükünor-See könne er nicht gesehen haben, und vielleicht war er nicht einmal in Tibet. Andererseits kannte er Zentralasien und die Mongolei sehr genau, hatte für Koltschak gekämpft und nach dessen Niederlage 1920 für den sagenumwobenen Ungern-Sternberg, dessen Berater er zeitweise war.
Möglicherweise ist in Ossendowskis Büchern auch der Einfluss des amerikanischen Anregers und Herausgebers des Buches (im Original: „Beasts Men and Gods“), Lewis Stanton Palen, wirksam. (Guenons Übersetzer zitiert nach der „einzig autorisierten deutschen Übersetzung“ von Wolf von Dewall).
Darin findet sich (auf S. 137 f.) ein Hinweis auf das unterirdische Reich mit seinem König. Ein reisender Lama, von Ossendowski als „kalmückischer Zaubermeister“ bezeichnet, erzählt dem Autor beim Abschied: „Was sie gestern Abend erlebt haben, war nur eine flüchtige Demonstration. Ihr Europäer wollt nicht erkennen, dass wir unaufgeklärten Nomaden die Kräfte des geheimen Wissens besitzen. Wenn Sie nur die Wunder und die Macht des Heiligsten Taschi Lama erblicken könnten, auf dessen Befehl sich z. B. die Lampen und Lichter vor der alten Statue Buddhas entzünden, dann würden Sie anders denken. Aber es gibt noch einen mächtigeren und heiligeren Mann …“
„Das ist der König der Welt in Agharti?“, unterbrach ich ihn.
Er starrte mich in großer Verwunderung an. „Haben Sie von ihm gehört?“, fragte er, indem er seine Stirn gedankenvoll runzelte.
Nach wenigen Sekunden sagte er:
„Nur ein Mann kennt seinen heiligen Namen, nur ein jetzt lebender Mann ist jemals in Agharti gewesen. Das bin ich selbst,“ nämlich der kalmückische Zauberer. Wir lassen Ossendowski hier einen Moment allein und überdenken die Aussage: Anders als bei Alveydre heißt der Ort hier Agharti, das ist wohl die mongolische Aussprache. Und Os- sendowski hatte schon von dem geheimnisvollen König und seinem Reich gehört. Von wem – das sagt er uns nicht.
Im 27. Kapitel (S. 205 ff.) wird das Geheimnis weitergesponnen. Ein Lama (Hutuktu) erzählt dem Autor von einem denkwürdigen Ereignis, wo ein fremder Lama im Kloster erscheint und sich zu erkennen gibt als der „Tashi Lama und Bogdo Khan. Es war der Mann, dem die ganze Welt gehört und der in alle Mysterien der Natur eingedrungen ist. Der Tashi Lama sprach ein kurzes tibetanisches Gebet, segnete die Anwesenden und machte danach Prophezeiungen für das nächste halbe Jahrhundert. Dies trug sich vor dreißig Jahren zu. Und alles, was er vorausgesagt hat, hat sich inzwischen erfüllt.“
Nun folgt der erwartete Budenzauber: Es öffnen sich Türen von allein, entzünden sich Lichter und Weihrauch durchströmt die Halle, obgleich die Becken keine Kohle enthielten.
„Dann verschwanden der König der Welt und seine Gefährten aus unserer Mitte. Hinter ihm blieb keine Spur, ausgenommen die Falten in der seidenen Thronbedeckung, die sich aber allmählich wieder glätteten, um den Thron alsbald wieder so dastehen zu lassen, wie wenn überhaupt niemand auf ihm gesessen hätte.“
Soweit die Erzählung des Hutuktu, die Ossendowski als wörtliche Rede wie- dergibt. Dann erlebt er eine Vision, die nur ihn persönlich angeht, und tritt dann mit dem Hutuktu „aus dem Gebäude des unbekannten Königs der Welt hinaus, aus dem Gebäude, in dem dieser für die ganze Menschheit gebetet und das Schicksal der Völker und Staaten vorausgesagt hatte.“
Der weltbeherrschende Anspruch ist hier voll ausgedrückt, dazu die mysti- sche Qualität des Erlebten. Ossendowski wendet sich an seine Begleiter und ist erstaunt, dass diese dieselbe Vision miterlebt haben; er bittet sie darum, (wie er in einer Anmerkung sagt) „das Geschehen zu protokollieren und zu bestätigen. Das haben sie getan und ich habe jetzt diese Erklärungen in meinem Besitz.“ Hoffentlich kann es jemand lesen.
Die Entwicklung und Spannung ist gut aufgebaut und in Teil V dann übersichtlich zusammengefasst unter der Überschrift: „Das Mysterium der Mysterien. Der König der Welt.“
Ohne Zusammenhang mit der Reise erzählt Ossendowski (S. 343 f.) eine Episode, als wäre sie zeitlos. Während des Ritts halten alle plötzlich inne und erleben einen paradiesischen Augenblick, wo alle Bewegung erstarrt ist und alle Gier unterbrochen wird. Der alte Mongole erzählt: „Alle Lebewesen werden unwillkürlich in eine Gebetsstimmung versetzt und erwarten ihr Schicksal. So war es gerade in diesem Augenblick. Das ist immer der Fall, wenn der König der Welt in seinem unter- irdischen Palast betet und das Geschick der Völker auf der Erde ergründet.“
Obgleich Ossendowski zunächst diesem Geheimnis nicht nachspürt, erfährt er doch im Laufe seiner Reisen in Zentralasien immer mehr Einzelheiten. So wird ihm erzählt, dass sich in Dschingis Khans Zeit ein ganzer Stamm in das unterirdische Land zurückgezogen habe, man zeigte ihm sogar das „rauchende Tor, das einen Eingang zum Königreich von Agharti darstellen soll.“
Ein Jäger, der dort hineingelangte, erzählte bei seiner Rückkehr, was er gesehen hatte, darum schnitten ihm die Lamas die Zunge heraus, damit er nicht weiter die Geheimnis- se preisgeben konnte. Als er alt geworden war, verschwand er dann durch dieses Tor ins unterirdische Reich.
„Über diese Frage“ erhielt Ossendowski realistischere Mitteilungen von einem anderen namentlich genannten Lama. Der erzählte „die Geschichte des mehr irdisch aufgefassten Kommens des mächtigen Königs der Welt aus dem unterirdischen Königreich, von seiner Erscheinung, seinen Wundern und seinen Prophezeiungen. Erst dann begann ich zu verstehen, dass in dieser Legende, mag es Hypnose oder Massenvision sein, nicht nur Mysterium, sondern auch eine realistische und mächtige Kraft verborgen liegt, die befähigt ist, die Entwicklung des politischen Lebens Asiens zu beeinflussen.“
Ossendowki war ja politisch tätig in der Mongolei, und so spürt man die Missionsabsicht, auch die christliche Tünche (die auf den amerikanischen Herausgeber Palen zurückgehen kann; Ossendowski war übrigens aus evangelischem Haus) und versteht, dass es sich auch um eine mystische Metapher handelt. Im Bild vom „König der Welt“ ist der Tod personifiziert, etwa wie in Pestzeiten oder im Existenzialismus, hier in tibetischer Färbung; die Unterwelt ist das Reich der Gräber. Hieraus ein „Agartha“ mit lebenden Drahtziehern unseres Zeitgeschehens zu konstruieren, ist vielleicht auf Unwissenheit bezüglich der Ausdrucksweise spiritueller Schriften gegründet. Ossendowski, so vertrackt und versponnen seine packenden Reisebücher anmuten mögen, könnte entlastet werden.
Er scheint aber der für Guenon wichtige Anstoß gewesen zu sein, denn dieser zitiert ihn ernsthaft (KW, S. 71) und baut weitere Ideen darauf: „Wie schon berichtet, trug Agartha zu Anfang des Kali-Yuga einen anderen Namen: Es hieß Paradesha, was im Sanskrit ‚höchste Gegend‘ bedeutet und unverkennbar auf das geistige Zentrum hinweist, das auch ‚Herz der Welt‘ genannt wird.“ Wir werden nun über die Chaldäer, die dazu ‚Pardes‘ sagten, zum abendländischen Wort ‚Paradies‘ geleitet, das der hebräischen Kabbala entstamme. Ein kluger Schachzug! Das Wort bedeutet übrigens – wie heute noch.
im Castellano „prado“ oder in Wiener „Prater“ – die Wiesen oder Almen für die Herden, die in Indien hoch über allen Wohngebieten am Gebirgshang liegen. Gewiss, die Hirten hatten ihre eigene Mystik, die auch im Sufismus weiterlebt. Da gibt es den Berg als „Zentrum der Welt“ (S. 72), mit Weltherrschaft hat das aber nichts zu tun.
Zu Paradesha gesellt Guenon dann den „wahrscheinlich noch älteren Namen“ Tula, „das die Griechen in Thule um- wandelten“. Das mexikanische Tula ist das Aztlan der Tolteken, das „sicherlich Atlantis war“ (S. 79). So einfach!
Im letzten Kapitel „Schlussfolgerungen“ (S. 87) schreibt Guenon: „Nach den Zeugnissen aller Traditionen ergibt sich eine klare Schlussfolgerung: Es ist die Behauptung, es gebe ein ‚Heiliges Land‘, an sich, Urbild aller anderen ‚Heiligen Länder‘, ein geistiges Zentrum, dem alle anderen Zentren untergeordnet sind. … Gewöhnlich versetzt man diesen Ort in eine ‚unsichtbare Welt‘“ … wobei „es sich um dasselbe handelt wie bei den ‚geistigen Hierarchien‘, von denen gleicherweise alle Traditionen sprechen und die in Wirklichkeit Einweihungsgrade darstellen.
In der heutigen Periode unseres irdischen Zyklus, dem Kali-Yuga, wird dieses ‚Heilige Land‘ von ‚Hütern‘ vor den Blicken der Profanen bewacht und verborgen gehalten. Wenn diese Hüter auch die Verbindung mit der Außenwelt aufrechterhalten, so ist dieses Land doch tatsäch- lich unsichtbar, unerreichbar – jedoch nur für diejenigen, die nicht die zum Eintritt notwendigen Eigenschaften besitzen. Wie nun?
Besteht ein solcher Ort tatsächlich in einem bestimmten Bereich der Erde, ist er nur symbolhaft zu verstehen oder gilt beides zugleich? Auf diese Frage wollen wir ganz einfach antworten, dass für uns die geografischen Gegebenheiten ebenso wie die historischen und sonstigen Ereig- nisse einen symbolischen Wert besitzen, was ihnen übrigens nichts von ihrer tat- sächlichen Wirklichkeit nimmt, sondern noch über jene unmittelbare Wirklichkeit hinaus eine höhere Bedeutung verleiht.“ Der Kommentator Küry merkt dazu an (Anm. 199): „… Darum kann die Ortsbestimmung des geistigen Zentrums nach den infrage kommenden Perioden jeweils verschieden sein.“
Dies kann ich nicht anders verstehen, als dass außer der realen Ortung des ‚heiligen Zentrums‘ zusätzlich eine überzeitliche und ortsungebundene Sinngebung des Begriffs gelehrt wird, der ihm „nichts von ihrer tatsächlichen Wirklichkeit nimmt“.
Ganz einverstanden ist Küry jedoch nicht, denn in seinem Nachwort geht er viel kritischer an die Aussagen Guenons heran, indem er (S. 126) „mehr aus der Sicht des Juristen als des Historikers“ in die Gegenwart schaut: „Einen irdischen König der Welt als Inhaber der geistlichen und weltlichen Gewalt über den ganzen Erdkreis hat es in geschichtlicher Zeit nicht gegeben und gibt es natürlich auch heute nicht, weder über dem Boden noch in Bergen oder Höhlen.“
Wie schön aufgeklärt! Dann ist doch alles Vorherige nur Geplänkel gewesen? Ja, sagt Küry:
„Guenon hat in seinem Buch ‚Le Roi du Monde‘ derartige Gerüchte entkräftet, wenn auch seine zurückhaltende Art zu falschen Auslegungen geführt hat. Wenn es heißt, dass Manu verborgen ist und am Ende des Zeitalters wiederkehrt, so heißt das nichts anderes als, Christus weilt im Himmel, bis er wiederkommt.“ (S. 127)
Na dann! Wir sind erleichtert und in den Schoß der Kirche zurückgeführt.
Ganz einfach war diese Volte nicht, aber sie ist bestimmend: „Guenon ist der Auffassung entgegengetreten, dass im seelischen Bereich ein Zentrum von Menschen bestände, das mit magischen Mitteln die Welt lenke.
Er betonte, dass Manu ein Grundsatz und ein Amt ist, das sich zeitweise in einem oder mehreren Menschen kundgeben kann. Solche Kundgebungen haben nur zeitlich und räumlich begrenzte Geltung, können aber in diesem Rahmen echt sein; doch mag es auch gerade hier Selbsttäuschungen und Scharlatanerie geben. Immer wieder spukt – nicht nur bei Okkultisten – das Gespenst einer geheimen Weltregierung …“
Küry kanzelt diese Gedanken ab, die Ossendowski und Guenon so mühsam aufgebaut haben. Man ist erleichtert. Es gibt sie aber, diese „Okkultisten“, die solche Verschwörungstheorien ver- breiten. Dazu noch einmal Guenon: (KW S. 70):
„Hinzugefügt sei noch, dass H(elena) P (etrowna) Blavatsky aus bruchstückhaften Informationen, die sie über dieses Thema sammeln konnte, wenn auch ohne Verständnis ihrer wirklichen Bedeutung, zu der Idee der ‚Großen Weißen Loge‘ kam, die wir nicht mehr als ein Bild, sondern ganz einfach als ein Zerrbild, eine fantastische Parodie des ‚Agartha‘ ansehen können.“
Es ist „ganz einfach“, wenn ein Mys- tiker einen Konkurrenten abkanzeln will. In der Anmerkung dazu fällt Küry das Urteil über diese „Pseudo-Einweihungsorganisationen im heutigen Westen“, die man „nicht ernst nehmen“ kann und die nicht „den geringsten Beweis einer ‚Rechtmäßigkeit‘ erbringen“. Da dürften ganz heftige Debatten personeller Art im Hintergrund abgelaufen sein.
Was mag Rudolf Steiner dazu gesagt haben?
Thema Mythen
Wie mancher Leser schon gemerkt haben wird, hat die Agartha-Idee stellenweise Ähnlichkeit mit dem fantastischen Reich Schambala (Shambhala), dessen Ort als real angenommen wird, ohne dass irgend jemand wüsste, wo es liegen könnte.
Nikolaus Rörich, der Maler und Schriftsteller, Schöpfer des „kulturellen Erbes“ als Schutzmaßnahme für Kulturgüter gegen Fliegerangriffe, suchte mit seiner Frau jahrelang danach (veröffentlicht 1930). Der Begriff soll schon sehr alt sein, er stamme von dem portugiesischen Jesuiten Estevao Cacella, der als Missionar mit knapp 45 Jahren (1630) in Tibet starb. Mit seinem Kollegen hatte er 1627 Schigatse und das Kloster Taschi-Lunpo erreicht und hier (oder in Bhutan) von Schambala gehört. Wo dieses Reich des Friedens liegen könnte, fand er nicht heraus; China hielt er für die wahrscheinlichste Lösung.
Möglicherweise, so liest man im Internetz, hat der berühmte Roman von James Hilton „Lost Horizon“ (1933), in dem ein ähnliches Friedensreich Shangri-La beschrieben wird, seine Anregung hierher genommen.
Damit haben wir einige der Erfinder des Mythos zusammengeführt. Rück- besinnung auf ältere Mythen wie Avalon (das Apfel- oder Abendland), Thule oder den Garten Eden klingt dabei an, ist aber nicht bestimmend für die neuartige Ausgestaltung. Die Idee von einem verborgenen zentralen Herrscher haben wir ja auch in unserer Kyffhäuser-Sage: Kaiser Friedrich Barbarossa sitz tief im Berg und wartet auf seine Rückkehr.
Dass er in der Zwischenzeit die Geschicke der Welt lenken würde, gehört nicht zu diesem Mythos, es passt nicht einmal zum Messias oder Mahdi, sondern scheint mir erst denkbar im 21. Jahrhundert.